Stand: 10:51 Uhr| Lesedauer: 4 Minuten
Der Ukraine-Krieg stärkt den britischen Premierminister Boris Johnson
Quelle: Martin U. K. Lengemann/WELT
Boris Johnson wurde von Europa lange belächelt. Im Ukraine-Krieg zeigt sich jetzt: Für seine Sicherheit braucht Europa Großbritannien – eine Atommacht mit gut ausgerüsteter Armee. Das wird ihm auch beim Kräftemessen mit dem Kontinent auf anderen Gebieten eine gewichtigere Rolle geben.
Mehr als zwei Jahre ist der Brexit her, in denen Boris Johnson keinen Fuß auf EU-Territorium gesetzt hat. Was der Pandemie geschuldet war, aber auch Londoner Symbolpolitik. Nun jedoch öffnet sich die schwarz lackierte Tür in der Downing Street Nummer zehn fast im Wochentakt Besuchern aus der Europäischen Union.
Der britische Premier lädt gezielt EU-Regierungschefs aus Ländern ein, die sich durch ihre geografische Nähe zu Russland durch Wladimir Putins Krieg in der Ukraine besonders be droht fühlen. Den Ost- und Nordeuropäern gilt Großbritannien von jeher als verlässliche europäische Macht.
Auch jetzt lässt London Worten der Solidarität mit Kiew Handfestes folgen – in Form von Waffen. Die Briten waren Mitte Januar die ersten Europäer, die Panzerabwehrgeräte schickten. Johnson, so betont sein Sprecher, „spricht fast täglich mit Präsident Wolodymir Selenskyj" und erwäge sogar eine Reise nach Kiew.
Putins Angriff auf die Ukraine hat Boris Johnsons Stellung in Europa verändert. Erst erntete der Konservative auf dem Kontinent Häme, weil sein EU-Ausstieg statt versprochener Brexit-Dividende vor allem Chaos und wirtschaftliche Verluste bringt. Dem schlossen sich die Schlagzeilen an über Lockdown-Partys in seinem Amtssitz und sogar polizeiliche Ermittlungen. Johnsons Verbleib in der Downing Street schien fraglich. Bis Putins Krieg ganz Europa in eine neue Zeitrechnung katapultierte.
„Die Einheit des Westens ist jetzt das Al lerwichtigste. Dass wir in diesem Konflikt gemeinsam mit den Amerikanern dieselben Prioritäten haben", betonte Johnson Anfang März im WELT-Interview. Seit dem 24. Februar vergeht kein Tag ohne von der Regierung veröffentlichte Statements zu Telefonaten, die der Premier mit europäischen Amtskollegen führt.
Zu nah will Johnson nicht an Brüssel rückenTrotz der neuen Nähe mag es dem Tory-Chef recht sein, keine Einladung zum EU-Treffen an diesem Donnerstag bekommen zu haben, obwohl er wegen des Nato-Gipfels ohnehin in der Stadt ist. Zu nah will Johnson doch nicht an Brüssel rücken. Sein auf Empörung gestoßener Spruch beim Frühlingsparteitag der Konservativen vergangenes Wochenende, dass das Brexit-Votum vergleichbar sei mit dem Freiheitskampf der Ukrainer, ist Teil von Johnsons Kalkül: Zustimmung bei seinen Tories abzusichern und gleichzeitig wieder die alte Machtrolle in Europa zu übernehmen.
„Johnson muss als aktive Führungsfigur wahrgenommen werden , um sein eigenes Narrativ vom ,Global Britain' zu erfüllen. In Hinsicht auf Waffenlieferungen an die Ukraine haben sich die Briten in Europa früh an die Spitze der Bewegung gesetzt. Aber auch was gemeinsame Initiativen für Energiesicherheit angeht, will Johnson vorn dabei sein", beobachtet der britische Europaexperte Mujtaba Rahman.
Die Vertreter der Mitgliedstaaten der Joint Expeditionary Force (JEF) in London
Quelle: Getty Images
Es wäre allerdings falsch, die militärische Führungsrolle des Vereinigten Königreichs im Ukraine-Konflikt allein auf Johnsons Brexit zurückzuführen. Die Briten wissen um Moskaus Ruchlosigkeit. Zwei Mal in den vergangenen 15 Jahren führten Putins Killer Angriffe mit chemischen, radioaktiven Kampfstoffen auf britischem Boden durch; 2006 gegen den Ex-Agenten Alexander Litwinenko in London, 2018 gegen den ehemaligen KGB-Mann Sergej Skripal in Salisbury.
Britische Militärs haben früher als andere vor Putin s Angriffsplänen in der Ukraine geplant, und stießen beim Premier auf ein offenes Ohr. Verteidigungsminister Ben Wallace forderte nach Recherchen der „Sunday Times" schon im Frühling 2021 intern Waffenlieferungen an Kiew. Mitte Januar veröffentlichte der ehemalige Kommandeur des Scots-Guards-Regiments eine Replik auf Putins Ukraine-Aufsatz im Sommer 2021.
„Wenn in einer kalten Februarnacht erneut russisches Militär in eine souveräne Ukraine eindringt, ignoriert die falschen Anschuldigungen über Nato-Aggressionen. Erinnert euch lieber an Putins Essay. Und fragt euch, was das für die Ukraine, aber auch für uns alle in Europa bedeutet", schrieb Wallace prophetisch.
Wallaces Analyse wird von Großbritanniens Partnern in Skandinavien, dem Baltikum und Polen schon lange geteilt. „Wir brauchen den Briten unsere Sicht der russischen Bedrohung nicht lang zu erklären. Ohnehin teilen wir eine gleich gesinnte, nüchterne und sehr pragmatische Herangehenswei se", erklärt ein EU-Diplomat aus einem der zehn Länder, die der Joint Expeditionary Force (JEF) angehören.
Die JEF wurde nach der Krim-Annexion 2014 gegründet, als ein nordeuropäisches Sicherheitsformat außerhalb der Nato, dem auch Nicht-Mitglieder wie Schweden angehören. Vergangene Woche lud Johnson die zehn Regierungschefs nach Chequers ein, den Landsitz der britischen Premierminister, traditionell eine besondere Geste.
Die aktuelle Kriegslage weckt vor allem in den baltischen Staaten kollektive Erinnerung an sowjetische Gräuel, aber auch an britische Unterstützung. „Während unseres Unabhängigkeitskriegs zwischen 1918 und 1920 waren es Schiffe der Royal Navy, die Estland vom Meer aus unterstützten", erklärt der estnische General Ants Laaneots im WELT-Interview. Auch jetzt sind die Briten wieder Nato-Führungsmacht in Estland. Weshalb am Flughafen von Tallinn neben der EU-Flagge auch ein Union Jack hängt.
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