Ukraine-Krieg: Schluss mit dem Polen-Bashing, bitte!


Drei Wochen Krieg, hinzuzurechnen zwei Jahre Pandemie – wie ist der Geisteszustand von Menschen, die sich über viele Monate ratlos durch Infektionsdebatten, Sterbeberechnungen, Kollapsdrohungen und massenhafte Freiheitseinschränkungen gehangelt haben? Und die nun nahtlos umschalten müssen auf Invasion, Atomkriegsgefahr, Massenflucht, Bomben und Tod?

Die Rede ist von uns allen. Natürlich bietet die lagebedingte Dauerdepression keinen Grund zum Klagen, wenn man sie mit schwer Erkrankten, an Covid Verstorbenen, aus ihrer ukrainischen Heimat Vertriebenen oder Ausgebombten vergleicht. Aber so viel sollte klar sein: Ohne mentale Schäden kommt jetzt im friedlichsten Eckchen der Republik und mit halb geschlossenen Augen und Ohren auch der Gesündeste nicht mehr davon.

Gerade wer dieser Tage in Auffanglagern oder an Grenzübergängen keinen Dienst tut (und das sind ja die Allermeisten), die oder der konnte spätestens in Kriegswoche drei eine sonderbare Veränder ung an sich selbst feststellen: Wir werden alle in rasantem Tempo von Hobbyvirologen umgeschult zu Strategen in Zivil.

Da begrüßt einen die Bekannte, die sich ein Leben lang privat für Topfblumen und Oper interessierte, urplötzlich mit einer kühlen Einschätzung der Frontlage: In spätestens zwei Wochen gibt es einen Waffenstillstand, dann die Neutralisierung der Ukraine und dann den zügigen Wiederaufbau. Wetten?

Eine befreundete Anwältin für Vermögensrecht sieht es ganz anders und weiß aus Instinkt, wie nervös Putins Hand gerade diese Woche am Atomknopf herumspielt. Schließlich hänge sein konventioneller Vormarsch am Kiewer Flughafen Hostomel fest. Dieweil haben sich einige Nachbarn mit Campingkochern, Pasta und Sonnenblumenöl eingedeckt, denn sie wissen aus sicherer Quelle, dass nicht erst der nächste Winter von Kälte und Versorgungsengpässen bestimmt wird. Es kann – ein Blick auf die Zapfsäulen reicht – jederzeit losgehen.

Der Schnellkurs

Das wirklich Schlimme am Krieg ist natürlich vor allem der Krieg, also bewaffnete Kämpfe, unschuldige Opfer, brennende Häuser und panisch Fliehende. Obendrein bedeutet es eine leider unabwendbare Neuerung, dass wir gemütlichen Bewohner der Posthistoire aus dem Stand massiven Drohneneinsatz oder die Ekligkeiten eines Häuserkampfs in Millionenstädten begreifen sollen. Dazu noch die Geografie eines riesigen Landes mit komplizierten Städtenamen. Derzeit liegt die Frontlinie im Westen Kiews zwischen Mychailiwka-Rubeschiwka und Petropawliwska-Borschtschahiwka. Es ist für Neulinge alles ein bisschen viel.

Aber wer kannte sich vor zwei Jahren schon aus mit Virologie? Und wer weiß heute Bescheid übers Militär? Vielleicht nicht einmal die deutsche Verteidigungsministerin, deren politische Erfahrungen sich bis vor Kurzem ums Paketboten-Schutzgesetz drehten.

Karl Kraus hat den Schnellkurs in Militarisierung der Köpfe in seinem Weltkriegs-Meisterwerk „Die letzte n Tage der Menschheit" genau beschrieben. Da rufen sich 1915 alte Wiener Caféhausspezls, deren Lebenssinn vorher zwischen Einspänner und Mehlspeisen oszillierte, auf dem Graben täglich die markigsten Frontnachrichten zu. Und die Sprache ahmt die Verrenkungen der Front nach: „Ist denn Lemberg schon wieder noch in unserem Besitz?" Immerhin hält man die Festung Przemysl, „Österreichs alter Stolz."

Dasselbe Przemysl ist im aktuellen Krieg zur wichtigsten Anlaufstelle ukrainischer Flüchtlinge geworden, glücklicherweise immer noch „in unserem Besitz" und voller polnischer Freiwilliger, die Hilfsgüter verteilen.

„Die Ostgrenze Polens ist die tägliche Blutkonserve für die Ukraine"

„Bisher hat die Bundesrepublik die Strela- und Stingerwaffen geliefert, sonst gar nichts", sagt Maximilian Terhalle, Gastprofessor für Geopolitik und Strate gie in der London School of Economics. „Deutschland könnte hier wesentlich mehr tun – tut es aber nicht, der Wille ist nicht da".

Quelle: WELT / Jens Reupert

Überhaupt, die Polen. Als diese Woche der polnische Regierungschef Morawiecki mit seinem slowenischen und tschechischen Amtskollegen per Zug ins belagerte Kiew reiste, war das ein Akt beileibe nicht nur politischen Mutes. Da wollten es hochrangige Schreibtischarbeiter nicht beim Landkartenstudium in der Etappe belassen. Alle Achtung! Pressebilder zeigen auch den 72-jährigen Jaroslaw Kaczynski – nicht ohne den mäkeligen Kommentar, dieser Mann sei in Europa wegen seiner restriktiven Flüchtlingspolitik umstritten.

Restriktiv? Man mag von Kaczynskis Haltung gegenüber der EU, Schwulen oder der politischen Opposition halten, was man will – derzeit schultert auch unter seiner Ägide Polen die Hauptarbeit beim Auffangen, Unterbringen und Versorgen von anderthalb Millionen Kriegsflüchtlingen. Und das, während in Berlin Verwaltung, Grenzpolizei, Katastrophenschutz bei einigen zehntausend Ankommenden kollabieren wie gehabt.

Regierungschefs von Polen, Tschechien und Slowenien reisen nach Kiew

Die russische Offensive rückt immer näher an das Stadtzentrum der Hauptstadt Kiew heran. Raketen trafen mehrere Wohnhäuser und eine U-Bahn-Station. Inmitten der Gefechte reisen die Regierungschefs von Polen, Tschechien und Slowenien nach Kiew, um den ukrainischen Präsidenten Selenskyj zu treffen.

Quelle: WELT / Peter Haentjes

Dieser Krieg, der uns noch lange nicht so nahe gerückt ist wie unseren polnischen Nachbarn, wäre vielleicht ein guter An lass, das Mode gewordene Polenbashing zu unterlassen. Und sich darauf zu besinnen, dass Polen (vielleicht nicht alle, aber die meisten) wie schon 1939 oder 1980/81 für unser aller Freiheit, für Europas Würde erneut den Kopf hinhalten und auch jetzt wieder gewaltigere Opfer bringen als wir Deutsche. Auch in Prag und in Budapest weiß man genau, wie das ist, wenn russische Invasionspanzer durch die Straßen rollen.

An anderer Front

Von den deutschen Politikern kämpft einzig Karl Lauterbach an vorderster Front, wenngleich seine Lieblingsfeinde erheblich kleiner sind als Buk-Flugabwehrraketen und unsichtbarer als Stealth-Bomber. Und doch hat Lauterbach das Böse allzeit fest im Visier. Die unwillkommene Medienpause während Putins Aggression hat der Gesundheitsminister augenscheinlich für die Lektüre von Michel Foucaults Standardwerk „Überwachen und Strafen" genutzt; damit geht es jetzt nämlich weiter.

Während in unseren Nachbarländern die Masken fallen, wagt e sich Lauterbach aus seinem Schützengraben mit der Warnung, Corona stelle noch „ein Jahrzehnt oder mehr" eine tödliche Bedrohung für alle dar. Was bedeutet gegen einen solch epochalen Feindbeschuss drei Wochen Krieg weit hinten in der Ukraine?

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