Ukraine-Krieg: Warum viele Menschen den Osten des Landes nicht verlassen


Ein Mann inspiziert sein Haus nach einem Angriff am Montag in Charkiw. Bild: Getty

Zahlreiche Ukrainer wollen trotz der russischen Offensive im Osten des Landes bleiben. Sie ziehen die Heimat der Ungewissheit in der Fremde vor.

Seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine haben mehr als fünf Millionen Menschen das Land verlassen. Doch Oleksandr Kusmenko will bleiben. Daran ändert auch der zu Wochenbeginn intensivierte Beschuss der ostukrainischen Großstadt Charkiw, in der er mit seiner Frau Elena lebt, nichts. Wenn sie Bomben- oder Raketenlärm hören, ziehen sie sich in den Flur ihrer Wohnung zurück. Hauptsache, weg vom Fenster, berichtet der 27 Jahre alte Freiberufler der F.A.Z. am Telefon. Zum Glück seien die Nächte auf Dienstag und Mittwoch wieder ruhiger gewesen, nach massivem Beschuss der Stadt am Montag.

Gerhard Gnauck Politischer Korrespondent für Polen, die Ukraine, Estland, Lettland und Litauen mit Sitz in Warschau.

Entbehrungen haben die Kusmenkos schon einige hinter sich. Im März waren sie 18 Tage lang ohne Elektrizität. Während sich die Regale in den Geschäften langsam wieder füllen, müssen sie zum Geldabheben immer noch sieben Kilometer weit zu Fuß gehen. Busse fahren keine, der Taxifahrer hat zur Sicherheit eine Kalaschnikow dabei. Warum bleibt das Paar unter diesen Umständen in Charkiw? Zumal gerade jüngere Menschen gerne in Städte fliehen, die weiter weg von der Front sind. Wir glauben weiterhin, dass Charkiw nicht von den Russen erobert wird", sagt Kusmenko. Er vermutet, dass die Stadt unter Beschuss steht, damit die ukrainische Armee keine Gegenoffensive in Richtung Osten starten kann.

Eltern wollen nicht nach Charkiw kommen

Noch weiter im Osten des Landes kennen sich die Kusmenkos aus. Sie stammen beide aus der Industriestadt Kos­t­jantiniwka im Oblast Donezk, nur wenige Kilometer von der selbst ernannten Donezker „Volksrepublik" entfernt. Am Osterwochenende hat Russland im Osten eine neue Offensive begonnen. Doch die Angehörigen denken nicht an Flucht – obwohl Oleksandr Kusmenko über die Gefahr, dass dort plötzlich russische Invasoren die Kontrolle übernehmen, sagt: „Es ist möglich."

Menschen sitzen zusammen in einem Keller eines Wohnhauses in Charkiw (Aufnahme vom 10. April) : Bild: dpa

Seinen Eltern habe er angeboten, nach Charkiw zu kommen. Doch sie, die etwas außerhalb von Kostjantiniwka in einem kleinen Dorf leben und sich selbst versorgen, hätten abgelehnt, berichtet Kusmenko von schwierigen Gesprächen. „Sie hoffen immer noch, dass es sie nicht trifft", sagt der Sohn. „Ihre Angst, ihr Leben zu verändern, ist größer als die Angst vor dem Krieg." Diese Haltung teilen auch die Kinder. Mitunter mit guten Gründen: Eine Bekannte von Oleksandr und Elena Kusmenko wurde am 8. April bei dem verheerenden russischen Raketenangriff auf den Bahnhof von Kramatorsk getötet. Zudem ist das junge Paar noch nicht lange verheiratet und will weiter „im Komfort" leben. So viel, wie möglich ist, arbeiten sie. Ansonsten versuchen sie Geld zu sparen.

Als junger Mann im wehrfähigen Alter ist Kusmenko dazu verpflichtet, in der Ukraine zu bleiben. Doch eine Teilnahme an der Territorialverteidigung ist für ihn, der über sich sagt: „Ich bin nicht gut mit der Waffe", weiter kein Thema. „Ich bin etwa die Nummer 10.231 auf der Warteliste", sagt er launig. Das heißt: Der Andrang von Freiwilligen ist weitaus größer als die Zahl derer, die in die bewaffnete Verteidigung des Landes eingebunden werden können. „Wir glauben an unsere Armee", sagt Oleksandr Kusmenko. Gleichwohl hat er einen dringenden Appell an die internationalen Verbündeten: „Es ist sehr wichtig, die Waffen jetzt zu liefern." Nicht debattieren, sondern handeln, lautet seine Aufforderung an den Westen.

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