Ukraine-Krieg: Überschallbomber treffen Mariupol – „Die Stadt existiert nicht mehr“


Das orthodoxe Osterfest ist erst in einer Woche. Dieser Sonntag war also Palmsonntag für Russen und die meisten Ukrainer. Doch nicht mal an einem solchen Feiertag hielten die russischen Streitkräfte mit ihrem Bombardement inne, klagte der Bürgermeister von Charkiw, Igor Terechow, in einer leidenschaftlichen Rede zum orthodoxen Palmsonntag.

Die Stadt wird immer mehr zum Zentrum der russischen Angriffe. Dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj zufolge hat es am Sonntag bei der Bombardierung der Innenstadt von Charkiw erneut fünf Tote und 15 Verletzte gegeben. AFP-Journalisten berichteten von mehreren Bränden, die sich infolge der Angriffe in Wohnvierteln im Zentrum Charkiws ausbreiteten und Dächer einstürzen ließen.

Wie Selenskyj in seiner abendlichen Videoansprache erklärte, sind in der Stadt allein in den vergangenen vier Tagen 18 Menschen getötet und 106 Personen verletzt worden. „Dies ist nichts anderes als vorsätzlicher Terror. Mörser, Artilleri e gegen gewöhnliche Wohnviertel, gegen gewöhnliche Zivilisten", sagte er.

Feuerwehrleute versuchen nach einem russischen Angriff ein Feuer in einem Wohnhaus in Charkiw zu löschen

Quelle: dpa/Andrew Marienko

Angaben aus Moskau zufolge haben russische Truppen am Sonntag in der Region Charkiw zudem zwei ukrainische Kampfflugzeuge vom Typ MiG-29 abgeschossen. Zudem seien zwei ukrainische Kommandostellungen und ein Radarsystem für Boden-Luft-Raketen vom Typ S-300 in der Stadt Awdijiwka im Bezirk Donezk zerstört worden. Auch dieses Gebiet, der Donbass, gilt als neues Hauptziel der russischen Invasoren.

Das neue Ziel der russischen Angreifer ist offenbar, die Ostukraine in Besitz zu nehmen und vom Rest des Landes abzutrennen. Dazu haben sie sich kürzlich aus dem Norden des Landes zurückgezogen. Damit habe sich nach Einschätzung des ukrainischen Militärgeheimdienstes jedoch nichts an den Plänen des russischen Präsidenten Wladimir Putin geä ndert.

Ukrainische Soldaten gehen während eines russischen Angriffs in der Innenstadt von Charkiw in Deckung, als Explosionen zu hören sind

Quelle: dpa/Felipe Dana

„Das Ziel der militärischen Aggression ist dasselbe geblieben: Dies ist eine Operation, um die Staatlichkeit der Ukraine zu vernichten", sagte der Geheimdienstchef Kyrylo Budanow dem „Spiegel" laut Vorabmeldung vom Sonntag. Die Ukraine solle nach dem Willen Russlands „aufhören als Staat zu existieren".

Auf die Frage, warum Russland entschieden habe, seine Truppen aus der Region um die Hauptstadt Kiew abzuziehen, sagte Budanow: „Sie haben sich nicht einfach so zurückgezogen – wir haben sie aus der Region Kiew vertrieben. Es begann damit, dass wir die Stadt Irpin zurückeroberten. Damit drohten ihre Kräfte im Kiewer Gebiet in zwei Teile zerschnitten zu werden."

Über das Scheitern des russischen Plans, Kiew zu erobern, wundere er sich nicht, sagte Budanow . Er wundere sich aber über etwas anderes: „Wie inkompetent und fahrlässig die russischen Befehlshaber an die Durchführung einer so großen Operation herangegangen sind. Wenn sie wirklich glaubten, dass sie in drei Tagen damit fertig sind – und nach unseren Erkenntnissen waren sie felsenfest davon überzeugt – dann muss die russische Führung sich fragen, wie kompetent ihre Generäle sind."

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Budanow wiederholte auch die Forderung der ukrainischen Regierung nach Waffen aus Deutschland: „Wir brauchen Artilleriesysteme – darin ist die deutsche Armee besonders stark", sagte der Generalmajor. „Und leider brauchen wir Panzer, weil wir sehr große Verluste an gepanzerten Fahrzeugen hatten."

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Mit den Waffen wolle die ukrainische Armee die besetzten Gebiete befreien, sagte Budanow. Dazu zähle er auch die 2014 von Russland annektierte Halbinsel Krim. Ein Problem mit der Ausbildung ukrainischer Soldaten etwa am Kampfpanzer Leopard sieht Budanow nicht: „Das lernen wir schnell. Mit Verlaub, das ist keine höhere Mathematik."

A uch Präsident Selenskyj betonte in seiner Ansprache in der Nacht zum Montag erneut die Bedeutung der Waffenlieferungen, insbesondere angesichts der Tatsache, dass sich russische Truppen weiterhin auf eine Offensive im Osten des Landes vorbereiten. Er kündigte zudem angesichts des befürchteten Großangriffs im Osten des Landes harte Gegenwehr an. „Wir werden unser Territorium nicht aufgeben", sagte er dem Nachrichtensender CNN. Die Schlacht in der Region Donbass könne den Verlauf des gesamten Krieges beeinflussen.

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„So wie die russischen Truppen Mariupol zerstören, wollen sie auch andere Städte und Gemeinden in den Gebieten Donezk und Luhansk dem Erdboden gleichmachen", sagte er. In der wochenlang belagerten Hafenstadt Mariupol wird von Tausenden getöteten Einwohnern ausgegangen.

Die letzten ukrainischen Soldaten haben sich dort offenbar auf dem Gelände des Stahlwerks Asowstal verschanzt. Dort befinden sich nach neuen Angaben örtlicher Behörden neben ukrainischen Truppen jedoch auch zahlreiche Zivilisten. Die Menschen hätten sich dort vor Beschuss während der wochenlangen Belagerung der Stadt durch das russische Militär versteckt, sagte der Chef der Streifenpolizei von Mariupol, Michajlo Werschinin, in der Nacht zum Montag dem Lokalfernsehen.

Ein Mann durchstreift ein völlig zerstörtes Wohngebiet von Mariupol

Quelle: REUTERS

„Sie trauen den Russen nicht. Sie sehen, was in der Stadt vor sich geht, und bleiben deswegen auf dem Werksgelände", sagte er. Die Angaben konnten nicht unabhängig überprüft werden. In dem riesigen Stahlwerk, zu dem auch unterirdische Anlagen gehören, sollen sich mehrere Tausend ukrainische Verteidiger der Stadt verschanzt haben. Große Teile von Mariupol befinden sich inzwischen unter Kontrolle des russischen Militärs.

Der ukrainische Generalstab berichtete am Sonntagabend von russischen Raketen- und Bombenangriffen auf das belagerte Mariupol. Dabei kämen auch Überschallbomber vom Typ Tu-22M3 zum Einsatz. Regierungschef Denys Schmyhal sagte dem US-Sender ABC, die Stadt sei nicht gefallen. Die ukrainischen Soldaten würden in Mariupol „bis zum Ende kämpfen". Außenminister Dmytro Kuleba berichtete im US-Sender CBS, die eigenen Truppen seien „im Grunde eingekreist" von russischen Truppen, die Mariupol dem Erdboden gleichmachen wollten. Wörtlich sagte Kuleba: „Die Stadt existiert nicht mehr."

Panzer der prorussischen Truppen in der Nähe des Hafens von Mariupol

Quelle: REUTERS

Russland hatte den verbliebenen ukrainischen Truppen in Mariupol zuvor mit Vernichtung gedroht. Ein Ultimatum, die Waffen bis zum Sonntagmittag niederzulegen und sich zu ergeben, ließen die Ukrainer verstreichen.

In Mariupol hielten sich noch rund 100.000 Einwohner auf, sagte Werschinin. Die russischen Truppen ließen sie für Essen Trümmer räumen sowie Leichen bergen und in Massengräbern beerdigen, behauptete er. Mariupol hatte vor dem Krieg rund.400 000 Einwohner. Nach der langen Belagerung und dem Dauerbeschuss werden Tausende Tote unter den Zivilist en befürchtet.

Präsident Selenskyj sagte unterdessen, seine Regierung werde alles tun, damit sich derartiges im Osten des Landes nicht wiederhole. Gleichzeitig kritisierte er jedoch die Verzögerungen bei Waffenlieferungen an sein Land. Angesichts der erwarteten neuen Offensive russischer Truppen bedeute dies „eine Erlaubnis für Russland, das Leben von Ukrainern zu nehmen", sagte Selenskyj weiter.

Er nannte keine Länder beim Namen. Jedoch hatte es zuletzt in Deutschland Streit in der Ampel-Koalition über die Lieferung schwerer Waffen gegeben. Politiker von Grünen und FDP hatten Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) Zaudern vorgeworfen. Militärexperten gehen davon aus, dass die Ukraine im Osten des Landes deutlich mehr schwere Waffen brauchen wird, um gegen Angriffe zu bestehen.

Quelle: Infografik WELT/Beate Nowak

Die Ukraine stehe in ständigem Kontakt mit Partnern, um die Verteidigung im Osten zu gewährleisten, sagte Selenskyj. Man sei dene n dankbar, die „helfen, womit sie können". „Aber diejenigen, die von uns benötigte Waffen und Munition haben und ihre Hilfe zurückhalten, müssen wissen, dass das Schicksal dieser Schlacht auch von ihnen abhängt. Das Schicksal von Menschen, die gerettet werden können."

In manchen Fällen warte man seit Beginn des russischen Angriffskrieges vor 53 Tagen auf eine Antwort.

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