Krieg in der Ukraine: Spekulationen über Umsturzpläne gegen Wladimir Putin


Der russische Exil-Oppositionelle Leonid Wolkow hat dem russischen Präsidenten Wladimir Putin mit Blick auf den Ukraine-Krieg eine verheerende Fehlkalkulation bescheinigt. „Putin hat eindeutig seine Amtszeit verkürzt", sagte Wolkow, ein Vertrauter des in Russland inhaftierten Oppositionspolitikers Alexej Nawalny, in einem Interview mit der Nachrichtenagentur AFP. Es sei offensichtlich, dass Putin sich beim Ukraine-Krieg „verkalkuliert" habe und die Invasion des Nachbarlandes zum Scheitern verurteilt sei.

Durch seine Entscheidung für eine Invasion in der Ukraine habe Putin „dramatisch die Wahrscheinlichkeit eines Szenarios verringert, in dem er einfach im Kreml bleibt, bis er stirbt", so wie der langjährige Staatschef dies „geplant" habe, sagte Wolkow am Rande des Gipfels für Menschenrechte und Demokratie in Genf.

Zwar sei Putin bisher einigermaßen erfolgreich darin, „sein Propaganda-Narrativ" zum Ukraine-Krieg über die russischen Sta atsmedien zu „verkaufen", sagte Wolkow. Die russischen Eliten seien aber bereits „sehr unglücklich über die wirtschaftliche Verwüstung, die Opfer, die Restriktionen und Sanktionen". Er rechne damit, dass „sie über einen Regimewechsel, über einen Wechsel des Systems nachdenken werden".

Wolkow appellierte an die internationale Gemeinschaft, in Kontakt zum „inneren Zirkel Putins" zu treten, „um ihnen einige Sicherheitsgarantien vorzuschlagen für den Fall, dass sie entscheiden, die Seiten zu wechseln".

Der IT-Experte Wolkow ist einer der wichtigsten Vertrauten des prominenten Kreml-Kritikers Nawalny, der seit Anfang des vergangenen Jahres in einem Straflager östlich von Moskau inhaftiert ist. Auf Nawalny war im August 2020 in Russland ein Giftanschlag verübt worden, für den er Putin verantwortlich macht. Der Kreml weist den Vorwurf zurück.

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Er sei zuversichtlich, dass ein politischer Wechsel in Moskau Freiheit für Nawalny bedeuten würde, sagte Wolkow. „Nawalny ist der persönliche politische Gefangene Putins", sagte er. „Es ist allein an Putin zu entscheiden, ob er ihn im Gefängnis oder frei lässt."

Zerstörung in der Stadt Butscha

Quelle: AP/Felipe Dana

Für zusätzlichen Druck im Inneren des russischen Regimes könnte auch die immer klarere Beweislage im Falle der Gräueltaten von Butscha – dort wurden Hunderte Leichen gefunden, einige mit gefesselten Hände – und in anderen Orten der Ukraine sorgen. Satelliten- und Drohnenaufnahmen liefern recht eindeutige Belege für die russische Urheberschaft dieser Kriegsverbrechen. Moskau weist die Verantwortung dafür nach wie vor von sich.

Versuche der Vertuschung durch russische Truppen

Moskau werde jedoch der Verantwortung für Taten russischer Einheiten in der Ukraine nach Ansicht des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nicht entkommen. Dies gehe schon aufgrund der hohen Zahl an in dem Krieg getöteten Ukrainerinnen und Ukrainern nicht, sagte Selenskyj in seiner Videobotschaft, die in der Nacht zu Donnerstag veröffentlicht wurde.

Daran än dere auch eine neue Taktik der Besatzer nichts. Diese versuchten nun, in den von russischen Truppen besetzten Gebieten getötete Menschen von den Straßen und aus den Kellern zu entfernen. „Dies ist nur ein Versuch, die Beweise zu verstecken und nichts weiter." Damit sollten die internationalen Ermittlungen behindert werden.

Über den russischen Rückzug

Tod, Verwundung, Desertation

Es scheine, dass die russische Führung wirklich Angst habe, „dass sich die weltweite Wut über das, was in Butscha gesehen wurde, nach dem, was in anderen Städten gesehen wurde, wiederholen würde" An die russischen Bürger gewandt, sagte er: „Wenn Sie sich auch nur ein bisschen dafür schämen, was das russische Militär in der Ukraine tut, dann ist dies für diese russischen Bürger ein Schlüsselmoment: Sie müssen ein Ende des Krieges fordern – einfach fordern."

Zudem berichtete Selenskyj von Tausenden Vermissten. Für deren Verbleib gebe es nu r zwei Möglichkeiten – sie seien entweder nach Russland deportiert oder getötet worden, sagte Selenskyj.

Motria Oleksiienko, 99 Jahre alt, traumatisiert durch die russische Besatzung, liegt in ihrem Bett in einem Raum ohne Heizung in dem Dorf Andrijiwka in der Ukraine

Quelle: dpa/Vadim Ghirda

Unterdessen sind in einer Garage im Kiewer Vorort Hostomel nach ukrainischen Angaben elf weitere Leichen gefunden worden. Die Polizei habe diese am Mittwoch entdeckt, berichtete die ukrainische Internetzeitung „Ukrajinska Prawda" in der Nacht zu Donnerstag und berief sich auf einen Telegram-Eintrag des ehemaligen Innenministers Arsen Awakow. Demnach soll es sich bei den Getöteten um Zivilisten handeln. Sie sollen von russischen Soldaten getötet worden sein.

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Das nordwestlich der Hauptstadt Kiew gelegene Hostomel mit dem nahen Flugplatz war seit Beginn des Krieges schwer umkämpft. Der Großteil der ursprünglich 16.000 Einwohner floh. Vor wenigen Tagen haben ukrainische Truppen wieder die Kontrolle in Hostomel, wie auch in den Nachbarorten Butscha und Irpin übernommen. Erst am Dienstag hatte der Chef der lokalen Militärverwaltung erklärt, dass man rund 400 Bewohner von Hostomel vermisse und die Behörden nun Keller inspizieren wollten.

Starke Zerstörungen in Borodjanka bei Kiew

Auch in der Kleinstadt Borodjanka bei Kiew werden weitere Tote unter Trümmern befürchtet. „Derzeit ist die Stadt Borodjanka eine der am stärksten zerstörten Städte in der Region Kiew", sagte der ukrainische Innenminister Denys Monastyrskyj am Donnerstagmorgen. Einwohner hätten erzählt, dass russische Truppen in den ersten Kriegstagen aus geringer Höhe mit Flugzeugen Raketen auf ihre Häuser abgeworfen hätten. Anschließend seien auch Rettungskräfte beschossen worden und hätten deshalb vorerst ihre Arbeit einstellen müssen.

Feuerwehrleute suchen unter Trümmern in Borodjanka nach Überlebenden

Quelle: dpa/Alex Chan

Menschen, die damals unter den Trümmern verschüttet worden seien, könnten mittlerweile nicht mehr am Leben sein, sagte Monasty rskyj. Am Mittwoch hatte der ukrainische Zivilschutz mitgeteilt, dass in Borodjanka mit der Suche nach zivilen Todesopfern begonnen wurde. Zuvor sei die 35 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt gelegene Siedlung von Minen geräumt worden, hieß es.

Angaben der ukrainische Generalstaatsanwaltschaft zufolge soll es in Borodjanka die meisten Opfer in der Region Kiew geben. Bislang haben die Behörden aber noch keine Zahlen für diesen Ort genannt.

Angst vor neuen Angriffen auf den Osten des Landes

Währenddessen wächst die Furcht, dass die russischen Truppen, die aus der Umgebung von Kiew abgezogen wurden, nun ihre Angriffe auf den Osten des Landes verstärken werden. Moskau baue weiter Kampfkraft auf, um seine Ambitionen im Donbass im Osten des Landes zu verwirklichen, sagte Selenskyj. Russische Einheiten bereiteten sich auf die Wiederaufnahme von Offensiven dort vor.

Aus US-Verteidigungskreisen verlautete ebenfalls, Russland habe alle seine schätzungsweise 24 000 oder mehr Soldaten aus der Gegend um Kiew und Tschernihiw im Norden der Ukraine abgezogen und nach Belarus oder Russland geschickt, damit sie sich reorganisieren.

Von westlicher Seite hieß es allerdings auch, die aufgeriebenen russischen Truppen benötigten nach Einschätzung von Geheimdiensten bis zu einem Monat, um sich für einen größeren Vorstoß auf den Osten der Ukraine neu zu formieren.

Dennoch wurde die Kleinstadt Popasna im Gebiet Luhansk im Osten der Ukraine in der Nacht zum Donnerstag ukrainischen Angaben zufolge beschossen. Ziel seien Einheiten der ukrainischen Streitkräfte, teilte der Generalstab in seinem Bericht am Donnerstagmorgen mit. Bei Nowotoschkiwske, ebenfalls im Gebiet Luhansk, hätten russische Truppen „erfolglos" versucht, die ukrainischen Verteidigungslinien zu durchbrechen.

Keine Massenevakuierung aus Charkiw geplant

In der ostukrainischen Großstadt Charkiw versucht der Bürgermeister die Menschen daher zu beruhigen. We der er noch das Militär hielten es momentan für notwendig, eine zentralisierte Evakuierung aus der zweitgrößten Stadt des Landes durchzuführen, sagte Ihor Terechow in einer am Mittwochabend auf Telegram veröffentlichten Videobotschaft.

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Streit über Waffenlieferungen

Der Aufruf zu einer Evakuierung treffe aber im Gebiet Charkiw auf die Bezirke Losowa und Barwinkowe zu, sagte er weiter. Dort erwarteten Militärs eine Zuspitzung der militärischen Situation. Die Stadt Charkiw sei dagegen gut mit Waffen ausgestattet und zur Verteidigung bereit, sagte der Bürgermeister weiter. Ob jemand angesichts des andauernden Beschusses die Stadt verlassen wolle, sei die Entscheidung jedes Einzelnen.

Charkiw hatte vor dem Krieg rund 1,5 Millionen Einwohner. Angaben der Gebietsverwaltung zufolge hat ein großer Teil der Bewohner bereits in den ersten Kriegswochen die Stadt und einige auch die Region verlassen. Charkiw wird seit Beginn der ru ssischen Invasion Ende Februar fast ununterbrochen aus der Luft und mit Artillerie angegriffen.

Am Mittwoch hatte die ukrainische Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk aus Sorge vor einer neuen russischen Offensive im Osten des Landes die Menschen in den Gebieten Luhansk, Donezk und Charkiw zur Flucht aufgerufen.

Quelle: Infografik WELT/Beate Nowak

In der seit einem Monat von russischen Truppen eingekesselten ukrainischen Stadt Mariupol wurden nach Angaben des Bürgermeisters bisher mehr als 5000 Zivilisten getötet. 210 der Toten seien Kinder, sagte Wadym Boitschenko am Mittwoch. Die russischen Truppen hätten Krankenhäuser bombardiert; in einem von ihnen seien 50 Menschen verbrannt. Mehr als 90 Prozent der städtischen Infrastruktur sei von russischem Beschuss zerstört worden.

Nach Erkenntnissen des britischen Verteidigungsministeriums sitzen in der Stadt 160.000 Menschen fest. Vor dem Krieg hatte Mariupol 430.000 Einwohner. Ein vom Roten K reuz begleiteter Konvoi mit Hilfsgütern versucht seit Freitag erfolglos, in die Stadt zu gelangen. Nach Angaben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz gelang es dem Team aber, etwa 1000 Zivilisten, denen selbst die Flucht von Mariupol ins 84 Kilometer westlich gelegene Berdjansk gelang, am Mittwoch sicher nach Saporischschja zu begleiten.

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Gräueltaten in der Ukraine

Insgesamt sind nach ukrainischen Angaben am Mittwoch fast 5000 Menschen aus Kampfgebieten evakuiert worden. Die stellvertretende Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk sagte, 1171 Flüchtende hätten die umkämpfte Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer verlassen und 2515 weitere die Städte Berdjansk und Melitopol sowie andere Gebiete im Süden. Zudem seien 1206 Menschen aus der östlichen Region Luhansk evakuiert worden.

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