Berlin Die Berichte kamen am späten Montagabend: In Mariupol soll Russland offenbar Chemiewaffen eingesetzt haben. Dies behauptet das ukrainische Asow-Regiment, eines von mehreren paramilitärischen Freiwilligenbataillonen.
Demnach sei eine unbekannte Substanz mit einer Drohne über der seit langem umkämpften Stadt abgeworfen worden, heißt es auf dem Asow-Telegram-Kanal. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig prüfen. Auch der öffentlich-rechtliche ukrainische TV-Sender Suspilne berichtete, es gebe keine Bestätigung durch offizielle Stellen.
Die von der Substanz getroffenen Personen leiden ukrainischen Angaben zufolge unter Atembeschwerden und Bewegungsstörrungen. Der ehemalige Asow-Kommandeur Andryj Bilezkyj berichtete von drei Personen mit Vergiftungserscheinungen.
Nach den Berichten aus Mariupol schrieb die britische Außenministerin Liz Truss auf Twitter, man arbeite mit Partnern daran, Details zu verifizieren. Jeder Einsatz solcher Waffen wäre eine Eskalation, für die man den russischen Präsidenten Wladimir Putin und seine Führung zur Verantwortung ziehen werde.
Kurz vor dem mutmaßlichen Angriff drohte Russland offenbar mit dem Einsatz von Chemiewaffen in Mariupol. Doch besitzt Russland überhaupt solche Waffen und falls ja, wie viele? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Besitzt Russland Chemiewaffen?Konkrete Informationen über einen möglichen Bestand von Chemiewaffen sind schwer zu beschaffen: Das deutsche Bundesverteidigungsministerium verweist bei Fragen nach Erkenntnissen zu russischen Chemiewaffen auf das Kanzleramt. Das Kanzleramt wiegelt ab. In einem solch sensiblen Bereich gelte große Geheimhaltung.
Auch die Wissenschaft kann nicht weiterhelfen: Weder die Leopoldina, noch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, noch die Bundeswehr-Hochschulen können mit Experten dienen. Fundierte Auskunft gibt schließlich der Chemiker Ralf Trapp, der 13 Jahre für die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) in Den Haag gearbeitet hat und die Vereinte Nationen und die Europäische Union berät.
Er verweist darauf, dass die Sowjetunion das weltweit größte Chemiewaffen-Programm der Geschichte gehabt habe. Dass sich der damalige Präsident Michail Gorbatschow aber 1990 mit den USA auf die Offenlegung und die kontrollierte Vernichtung der Bestände geeinigt habe.
Chemiewaffen-EntsorgungIn solchen Granaten können chemische Kampfstoffe verschossen werden.
(Foto: Reuters)2017 bestätigte die Organisation für das Verbot chemischer Waffen die Vernichtung aller russischen Chemiewaffen. „Nach allem, was wir wissen, kann es also in Russland heute keine größeren Bestände mehr geben", sagt Trapp.
Sollte Putin zwischenzeitlich ein neues Programm gestartet haben, „wüsste das der Westen vermutlich, denn größere Produktionen kann man nicht so ohne Weiteres verstecken. Die Anlagen wären ziemlich sicher von der Luftaufklärung identifiziert worden. Zudem müsste Russland diese Waffen dann auch testen, was ebenfalls auffallen würde."
Trapp hält es auch für unwahrscheinlich, dass Putin in der Ukraine Chemiewaffen einsetzen würde, denn „um militärisch effektiv zu sein, müsste dies in großem Stil geschehen, also mit Hunderten oder sogar Tausenden Tonnen".
Allerdings gibt er zu bedenken: „Wenn man Chemiewaffen gegen die Zivilbevölkerung einsetzt, die keine Schutzausrüstung hat, kann man auch mit kleinen Mengen erhebliche Wirkung erzielen."
All das gilt für die chemischen Kampfstoffe im engeren Sinn, die rein militärisch verwendet werden. Anders sieht es bei Substanzen aus, die in großen Mengen in der Industrie vorkommen, wie etwa Chlorgas.
Kann Russland Chlorgas einsetzen?Chlor als Giftgas wurde schon im Ersten Weltkrieg flächendeckend verwendet. Der erste größere Einsatz erfolgte am 22. April 1915 in Flandern durch eine deutsche Spezialeinheit, die von dem späteren Nobelpreisträger Fritz Haber beraten wurde, kurz darauf auch durch die Franzosen.
Der bislang letzte Einsatz fand 2017 und 2018 in Syrien statt. Die OPCW geht davon aus, dass dies auf das Konto der Streitkräfte des Assad-Regimes ging – „aber die Russen waren mit den syrischen Streitkräften militärisch voll integriert , wissen also, wie es geht", sagt Trapp.
Militärisch wird Chlorgas etwa nach einem konventionellen Luftangriff verwendet, wenn die Menschen in Keller geflüchtet sind. Wird dann Chlorgas abgeworfen, das schwerer ist als Luft, kriecht es in die Keller und erstickt die Opfer oder zwingt sie, ins Freie zu flüchten.
Chlorgas ist also eine extrem tödliche Waffe – aber eben vor allem auch ein Industriegas, das etwa zur Trinkwasseraufbereitung und zur Reinigung von Swimmingpools verwendet wird.
Weil es in sehr großen Mengen hergestellt wird, findet es sich auch nicht auf den Kontrolllisten des Chemiewaffen-Abkommens, „denn man könnte Produktion und Bestände nicht effektiv kontrollieren", erläutert Trapp. „Russland könnte es also theoretisch problemlos mit improvisierten Einsatzmitteln ausbringen, und zwar mit sehr effektiver Wirkung."
Der militärische Effekt wäre regional begrenzt, könnte aber vor allem in dicht besiedelten Gebieten viele Tote zur Folge haben. Da sich das Gas nach wenigen Stunden verflüchtigt, könnten die angreifenden Truppen das Gebiet dann ohne Gasmasken betreten.
Selbst ein kleiner gezielter Einsatz wäre „ehr effektiv, um Angst und Schrecken zu verbreiten", so Trapp.
Wie wichtig ist die Angst vor Chemiewaffen?„Die Geschichte der Chemiewaffen zeigt: Noch wirksamer als die reine Zahl der Opfer ist manchmal die psychologische Komponente, also der Horroreffekt, der erzielt wird, wenn eine Macht mit dem Einsatz droht oder auch nur den Eindruck erweckt, sie könnte, wenn sie wollte", sagt Trapp.
„Das reicht mitunter aus, um Menschen in Panik zu versetzen. Es gibt sogar Fälle, in denen sie dann über Symptome klagten, obwohl definitiv keine Chemiewaffen eingesetzt wurden, sondern nur Dunst und Staub aufgewirbelt wurde", ergänzt der Fachmann.
Ist Nowitschok als Kriegswaffe geeignet ?Weltweit bekannt wurde die Gruppe der Nowitschok-Nervengifte (russisch für „Neuling") erst 2018 durch die Vergiftung des Doppelagenten Sergej Skripal und seiner Tochter Julia in London und vor allem durch den Anschlag auf den russischen Dissidenten Alexej Nawalny im Jahr 2020.
Entwickelt wurde das Gift in Russland jedoch bereits seit den 70er-Jahren. Trotz Gorbatschows Versprechen, Chemiewaffen zu vernichten, wurde Nowitschok mindestens bis in die 1990er-Jahre heimlich erforscht. Es zählt zu den stärksten Nervengiften überhaupt, bei Hautkontakt beträgt die tödliche Dosis etwa ein Milligramm.
Alexej NawalnyDer russische Dissident war Opfer eines Anschlags mit dem Nervengift Nowitschok.
(Foto: AP)Die Existenz von Nowitschok hatte 1991 der an der Entwicklung beteiligte russische Chemiker Wil Mirsajanow enthüllt, dessen Veröffentlichungen jedoch auf wenig Resonanz stießen. Als Grund gilt heute, dass der Westen das Chemiewaffenabkommen generell nicht gefährden wollte, indem er Russland aufforderte, auch diese Giftstoffe zu melden – und zu vernichten.
In die Liste der verbotenen Nervenkampfstoffe wurde Nowitschok erst 2019 aufgenommen. Bisher hat aber kein Staat Bestände gemeldet.
Völlig unklar ist, in welchen Mengen Russland über Nowitschok-Gifte verfügen könnte. „Ursprünglich waren sie Teil des militärischen Entwicklungsprogramms, da gab es schon die Absicht, sie in Bomben oder Artillerie zu füllen", erläutert Trapp.
Aber Nowitschok-Gifte sind – anders als andere Kampfstoffe – „soweit wir wissen nie in Großproduktion gegangen", sagt der Experte. Die Herstellung von kleineren Mengen jedoch „hätte man vermutlich nicht bemerkt".
Mehr: Finnlands Außenminister – „Wir müssen die Ukraine jetzt mit allen Waffen unterstützen, die sie braucht"
0 Comments