Rinteln: Wie sich die Ukraine-Flüchtlinge bei der Lebenshilfe eingelebt haben


Die mit gespendeten T-Shirts und Jacken gefüllten Kartons stapeln sich im Flur. Kinder rennen lachend umher, ein Baby schreit. Wer den ehemaligen Seniorentrakt der Lebenshilfe betritt, wird schnell von Schwermut umfangen. Die spielenden Kinder sind mit ihren Müttern aus der Ukraine geflohen, mussten alles zurücklassen und haben bei der Lebenshilfe eine Zwischenheimat gefunden.

Unter ihnen sind die 18-jährige Veronika und die erst 16-jährige Alexandra mit ihren wenige Tage alten Säuglingen. Sie warten auf die nächsten Schritte, doch die Wohnungsvermittlung stockt.

Die beiden jungen Ukrainerinnen haben ihre Kinder erst kürzlich in Hameln zur Welt gebracht. Vor 16 Tagen erblickte der kleine Bogdan das Licht der Welt, Anna ist sogar erst elf Tage alt. Die Mütter flohen aus Dnipropetrowsk, einer Millionenstadt im Osten der von Putin überfallenen Ukraine. Veronika und Alexandra wissen nicht, wie es für sie in Rinteln weitergeht.

Zwar wollen sie bleiben, doch die Wohnungsvermittlung durch Stadt und Kreis scheint trotz vieler Angebote aus der Bevölkerung nicht richtig in Schwung zu kommen. Veronika und Alexandra sind wortkarg, wirken erschöpft – wer will es ihnen verdenken?

Abenteuerliche Geschichten von der Flucht: „Am Himmel schwebten Militärdrohnen"

Die 39-jährige Viktoria ist bereit, ihre Geschichte zu erzählen. Viktoria und ihre Töchter Margerita (15) und Anna (20) flohen aus der ukrainischen Hauptstadt Kiew zunächst ins ostpolnische Chelm. Nun wohnen sie übergangsweise in Zimmer 14 der Lebenshilfe. Allein der Weg dorthin war abenteuerlich: „Der Busfahrer hat immer nur Gas gegeben, am Himmel schwebten Militärdrohnen", sagt Viktoria auf Russisch zu Dolmetscher Waldemar Fetisow aus Bückeburg.

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Viktoria (vorne) und ihre Töchter Margerita und Anna (links) sind dankbar für den herzlichen Empfang in Rinteln. Foto: Malick Volkmann

Die drei Frauen waren heilfroh, als sie die ukrainisch-polnische Grenze passierten. Endlich in der EU, endlich in Sicherheit. Doch in Chelm wollten sie, untergebracht in einer Turnhalle, nicht bleiben. Unter den Flüchtlingen habe sich schnell eine Devise ergeben, die vor Menschenhändlern schützt: Steigt bloß nicht in Privatfahrzeuge, die nur von Männern gefahren werden!

„Uns haben drei polnische Männer aus einem SUV angesprochen und versprochen, uns nach Deutschland zu fahren. Wir wollten aber in einen Bus mit anderen Frauen und Kindern", erzählt Viktoria. Das Problem ist ernst: Selbst in Hannover sprechen Berichten zufolge Zuhälter geflüchtete Frauen an.

Viktoria und ihre Töchter wählten den Bus und kamen sicher in Rinteln an. Die 39-Jährige bedankt sich bei den Helfern und der generellen Gastfreundschaft in Rinteln, hebt einen Daumen, um ihre russischen Worte zu bekräftigen.

Radikale Veränderung - von einem Tag auf den anderen

Doch ein Tag gleicht bei der Lebenshilfe dem anderen. Seit sie vor rund drei Wochen in Rinteln angekommen sind, verbringen Viktoria, ihre Töchter und 56 weitere Flüchtlinge die meiste Zeit in der ehemaligen Seniorenresidenz. „Wir gehen viel spazieren und waren schon einkaufen. Einmal hat mir eine Frau zehn Euro geschenkt, damit ich einkaufen konnte. Das war so lieb, aber mir auch unangenehm", sagt Viktoria.

Klar: In Kiew führte sie ein erfolgreiches Nagelstudio, Tochter Anna studierte, Margerita ging zur Schule. Da sei es nicht so leicht, plötzlich fremde Hilfe anzunehmen. Nötig ist die Hilfe nun trotzdem, denn das Leben der Frauen änderte sich von einem Tag auf den anderen radikal. „Als der Krieg anfing, sind wir sofort weg", erzählt Viktoria.

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Die vielen Kinder spielen auf dem Flur – vor Wochen haben sie ihre Heimat in der Ukraine verloren. Foto: Malick Volkmann

Die übrigen Ukrainer, die drei Wochen nach ihrer Ankunft bei der Lebenshilfe wohnen, sind hauptsächlich Frauen und Kinder. Rund zehn Männer sind mitgekommen, berichtet Dolmetscher Fetisow. Viele andere Männer kämpfen für ihr Heimatland im Krieg – so auch Alexander, Viktorias Mann. Er wurde von der Armee eingezogen, Kontakt haben sie nicht. Sie vermisse ihn und ihre Heimat: „Es tut so unglaublich weh."

Täglich telefoniert Viktoria mit ihrer Mutter und der Tante. Ob beide die Ukraine schnell verlassen können? Viktoria bleibt nur die Hoffnung. Sie bedankt sie sich noch mal für die Unterstützung, meint damit Stadt, Kreis, Lebenshilfe, Awo und die zahlreichen Sponsoren, die Sachspenden stifteten. Dann steht Viktoria auf und schlüpft durch die Tür des ehemaligen Seniorenzimmers in Zimmer 14.

Schule, Kita, Unterkunft: Die Zukunft bleibt unklar

Viktoria und ihre neuen Mitbewohner arrangieren sich mit den neuen Umständen. Die wenigsten Geflüchteten sprechen Englisch, nun haben sie den ganzen Tag Gelegenheit, um etwas Deutsch zu lernen. Die Sprachkenntnisse sollten im Optimalfall bald auch in der Schule ausgebaut werden.

Doch wann die 15-jährige Margerita und die vielen anderen ukrainischen Kinder in die Schule gehen werden, ist noch unklar. Ebenso ist es bei den Kita-Kindern: Wie zu hören ist, wartet der Landkreis auf Instruktionen vom Land Niedersachsen.

Als wichtiges Ziel haben Stadt und Kreis seit Beginn des Krieges und der Flucht die dezentrale Unterbringung auserkoren. Also eben keine Sammelunterkünfte, wie die Lebenshilfe ja zweifelsfrei eine ist. Die Flüchtlinge sollten entweder in Familien oder eigenen Wohnungen untergebracht werden. Doch noch läuft das schleppend.

Wie Bürgermeisterin Andrea Lange mitteilt, wurden zwar mehr als 80 Wohnangebote, vom Einzelzimmer bis zur möblierten Wohnung, eingereicht – jedoch benötigen die Besichtigungen durch das Ordnungsamt Zeit.

Von Malick Volkmann

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