Historiker Andrii Portnov über die Geschichte der Ukraine


Gedenken an Stalins Politik und den Holodomor: Am Ende dieser gewalttätigen Kollektivierung waren Millionen Menschen tot und verhungert Bild: picture-alliance

Was macht die ukrainische Kultur aus? Wann wurde Putin zum Hobby-Historiker? Was war der Holodomor? Ein Gespräch mit dem Historiker Andrii Portnov, der in Frankfurt an der Oder am Lehrstuhl für Ukrainistik arbeitet.

Herr Portnov, was antworten Sie einem Menschen, der sagt, die Ukraine gebe es erst seit 1991?

Meistens antworte ich mit einer Gegenfrage: Warum erschien dann die erste deutsche Übersetzung eines Buchs des ukrainischen Dichters Taras Schew­tschenko schon 1911 in Leipzig?

In ukrainischen Städten verbrennen jetzt russische Soldaten Bücher. Wollen sie so die ukrainische Kultur und damit auch die Nation vernichten?

Leider waren Bücher in der Ukraine immer wieder Opfer von Kriegen. In Deutschland kann man sehr viele antiquarische Bücher kaufen, was in der Ukraine kaum möglich ist, zu viele wurden vernichtet. Und jetzt gibt es noch mehr traurige Beispiele: Viele Museen, Galerien, Archive sind mittlerweile zerstört. Doch ich hoffe sehr, dass das Kulturerbe der Ukraine diesen Krieg überlebt.

Und welche Motive haben Ukrainer, wenn sie zum Beispiel ihre Tolstoistraßen jetzt umbenennen wollen?

Das ist erst mal eine Reaktion auf den Krieg. Auch wenn Sie und ich gegen diese Bewegungen sind, müssen wir verstehen, dass es nur eine Phase ist. Jeder Krieg bedeutet Zerstörung und Gewalt – auch symbolische Gewalt.

Oft fällt von beiden Seiten das Wort Genozid im Zusammenhang mit diesem Krieg. Halten Sie das für richtig?

Sagen wir es so: Ich verstehe sehr gut, was beide Seiten damit bezwecken, wenn sie diesen Begriff benutzen. Völkermord im Sinne einer politischen Kategorie bedeutet das schlimmste Verbrechen überhaupt. Ob das wissenschaftlich gesehen richtig ist, hängt von unserer Definition des Wortes Genozid ab ...

… aber Zivilisten werden ermordet, weil sie Ukrainer sind.

Ja, was man jetzt schon sagen kann, ist, dass es einen Massenmord gibt. Doch Genozid ist etwas anderes. Die historischen, kontextuellen Unterschiede zwischen zum Beispiel dem Holocaust, zwischen dem, was in Ruanda geschah, und dem, was jetzt in der Ukraine passiert, dürfen wir nicht ignorieren.

Andrii Portnov, 1979 in Dnipro geboren, ist Professor für Entangled History of Ukraine an der Viadrina in Frankfurt an der Oder. : Bild: privat

Also kein Genozid?

Ein Historiker sollte mit solchen Begriffen vorsichtig sein. Das Wichtigste ist, dass die, die für die Verbrechen verantwortlich sind, möglichst früh vor Gericht kommen. Der Name oder die rechtliche Definition der Verbrechen folgen später.

Weil wir schon über Namen sprechen: Wann werden wir wissen, wie wir diesen Krieg nennen sollen?

In der Regel kommen die Namen für Kriege erst nach den Kriegen. Es gibt natürlich jetzt schon Namen, die ich problematisch finde. Zum Beispiel bezeichnen einige Ukrainer das, was dort geschieht, als „Vaterländischen Krieg". Dieser Begriff ist aber sehr stark symbolisch geprägt. Es gibt zwei Vaterländische Kriege in der russländischen Geschichte, erst der Krieg mit Napoleon und dann der gegen Nazideutschland.

Moment, bitte. Was ist eigentlich der Unterschied zwischen russisch und russländisch?

Man könnte es so erklären: Wir sprechen über Tolstoi als russischen Schriftsteller oder über die russische Sprache. Das Wort russländisch hat mehr politische und staatsbürgerliche Bedeutung. Das heißt zum Beispiel: Den Staat Russische Föderation sollte man auf Deutsch eher als Russländische Föderation bezeichnen, weil es nicht nur ein Staat für ethnische Russen ist, sondern für alle möglichen Nationalitäten, die dort leben.

Für manche Ukrainer ist das, was jetzt passiert, ihr Unabhängigkeitskrieg.

Historisch gesehen, finde ich die Formulierung schon logisch. Denn man kann diese neuen Ereignisse – die Annexion der Krim, den Krieg im Donbass, die Großinvasion – als eine Nachgeburt des Zerfalls der Sowjetunion betrachten. Ihr Ende 1991 war mindestens im Fall der Ukraine sehr friedlich. Was jetzt passiert, ist zum großen Teil eine Folge davon.

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